Soziale Differenzierung jüdischer Lebenswelten. Zugehörigkeit, Hierarchie und Mobilität

Soziale Differenzierung jüdischer Lebenswelten. Zugehörigkeit, Hierarchie und Mobilität

Organisatoren
Interdisziplinäres Forum „Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit und im Übergang zur Moderne“; Johannes Kuber, Katholische Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Ort
Hohenheim
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
17.02.2023 - 19.02.2023
Von
Julia Mutzenbach, Institut für Jüdische Studien, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die 23. Tagung des interdisziplinären Forums „Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit und im Übergang zur Moderne“ wurde konzipiert und geleitet von Cornelia Aust, Paola Ferruta, Birgit Klein, Rotraud Ries und Anna Rogel.1

In der Einführung verwies CORNELIA AUST (Bielefeld) darauf, dass der sozialen Differenzierung jüdischer Lebenswelten in den letzten Jahrzehnten häufig nur in ihren äußersten Extremen – nämlich auf der einen Seite den wohlhabenden Hofjuden, auf der anderen den besitz- und rechtlosen Betteljuden – Aufmerksamkeit geschenkt worden sei. Damit sei die Mehrheit in der Mitte der jüdischen Bevölkerung in der Frühen Neuzeit als sozial homogene Gruppe missinterpretiert worden. An den zwei Konferenztagen gebe es Raum, sich diesem Desiderat der Forschung aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Methoden zu nähern. Sowohl Gleichheit und Ungleichheit innerhalb der jüdischen Gesellschaft als auch die Rolle der Obrigkeiten bei der Hierarchisierung ihrer Untertanen sollten diskutiert werden.

Im ersten Vortrag zeigte JULIA MUTZENBACH (Düsseldorf) anhand eines Rechtsstreits in der jüdischen Dorfgemeinde von Burgpreppach im 17. Jahrhundert, wie Machtverhältnisse innerhalb der Gemeinde ausgehandelt wurden. Ein Gemeindemitglied versuchte, einen Verwandten als Neumitglied anzusiedeln, setze sich dabei aber über die geltenden Regeln der Gemeinde hinweg und missachtete darüber hinaus die Rechtsentscheidungen des zuständigen Rabbiners. Eine innerjüdische Einigung schien unmöglich, weshalb sich die Judenschaft schließlich an die Ortsherrschaft wandte. Der Fall verdeutlichte, dass in den armen Landgemeinden soziale Hierarchien von Faktoren wie einem gehobenen Alter oder dem Besitz von Ritualgegenständen oder Räumen abhängig waren, die für den Gottesdienst gebraucht wurden. Mutzenbach erläuterte, dass sich durch die Einschaltung der Ortsherrschaft zwar das Machtgefälle innerhalb der jüdischen Gemeinde verringern ließ, die Herrschaft aber mehr Einfluss nehmen und die finanziellen Einnahmen von ihren Schutzjuden ausbauen konnte.

RAHEL BLUM (Frankfurt am Main) berichtete über eine wohlhabende städtische Gemeinde. Sie machte zunächst anhand eines Vergleichs der jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main mit der Hessen-Darmstädtischen Landjudenschaft deutlich, dass die Differenzierung von finanziell starken und schwachen Familien vom wirtschaftlichen Status und Standard der jeweiligen jüdischen Gemeinde abhing. Anhand der Frankfurter Familien zeigte sich, dass sich die Verteilung der Gemeindeämter weniger am Vermögen der Mitglieder orientierte, sondern vielmehr an Familienzugehörigkeit oder anderen, weniger offensichtlichen Kriterien. Da die reichsten Gemeindemitglieder nicht alle einen Vorstandsposten erhalten konnten, wurden weitere Ämter geschaffen, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einer Schwächung der Autorität des Gemeindevorstands führten. An diesem Beispiel verdeutlichte Blum die Komplexität der Gemeindestrukturen und zeigte, dass ein Vorstandsposten nicht immer mit dem finanziell, sozial oder traditionell einflussreichsten Status innerhalb der jüdischen Gemeinde korrelierte.

Daran anschließend widmete sich LISA BESTLE (Mainz) den „Kulp‘-Kann’schen Wirren“, einer Auseinandersetzung über die Gemeindeführung ebenfalls in der jüdischen Gemeinde Frankfurt. Die Streitigkeiten, die 1749 ausbrachen, spielten sich vorrangig zwischen den wohlhabenden Mitgliedern ab. Anhand von Unterschriftenlisten konnte die hohe Beteiligung männlicher wie auch einiger weiblicher Mitglieder am Konfliktgeschehen nachgewiesen werden. Der wirtschaftliche, rechtliche und soziale Status der Beteiligten bestimmte die Parteibildung sowie die argumentative Strategie. Angehörige anderer sozialer Gruppen wurden als Kollektiv oder Einzelpersonen für Beschwerden oder Verunglimpfungen der Gegenseite bei der Obrigkeit instrumentalisiert, obwohl diese sich selbst nicht äußerten. Öffentliche Ehrverletzungen von mutmaßlich Unbeteiligten und Angehörigen anderer sozialer Schichten dienten dabei zur rhetorischen Verstärkung der jeweils eigenen Position vor der Obrigkeit. Bestle schilderte eine Gemengelage von Selbstverwaltungsrechten, kaiserlichen und städtischen Herrschaftsrechten, die eine mehr als 20 Jahre währende Auseinandersetzung vor verschiedenen Instanzen möglich gemacht hatte.

NATHANJA HÜTTENMEISTER (Essen) präsentierte, wie auf einem jüdischen Friedhof soziale Strukturen einer Gemeinde sichtbar werden. Anhand von historischen jüdischen Friedhöfen in Deutschland, die in verschiedenen Epochen angelegt wurden und bis heute erhalten sind, zeigte sie, dass die Lage eines Grabes auf dem Friedhofsgelände an ausgewählte Kriterien geknüpft war: Alter und Geschlecht, gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung, Familienzugehörigkeit und Herkunft, religiöse Vorstellungen, Lebenswandel sowie Todesumstände der Verstorbenen. Die Praktiken zur Hierarchisierung von Grabstätten variierten stark von Gemeinde zu Gemeinde. Da es keine einheitlichen Regelungen dazu gab, seien individuelle Untersuchungen notwendig. Nicht nur die Lage des Grabes, sondern vornehmlich die Ausrichtung, die Gestaltung des Grabsteins, sein Material und die Inschrift geben Aufschluss über den sozialen Status der verstorbenen Person. Hüttenmeister wies auf anstehende Erschließungsprojekte hin, die neue Erkenntnisse über diese wichtige Quellengattung jüdischer Geschichte versprechen.

Der Relation von armer und reicher Schicht der jüdischen Gesellschaft widmete sich MICHAELA SCHMÖLZ-HÄBERLEIN (Bamberg) in ihrem Vortrag über Stiftungen. Diese ermöglichten es den Stiftern, wohltätige Zwecke wie die Ausbildung von Kindern und jungen Männern sowie die Aussteuer von Frauen und sogar die Versorgung christlicher Bedürftiger zu finanzieren und darüber hinaus die Erinnerung an ihren eigenen Namen über den Tod hinaus wachzuhalten. Die Referentin ging dabei beispielhaft auf den Fall Meyer Levi aus dem 18. Jahrhundert ein, der sowohl in der fränkischen Landgemeinde Zeckendorf als auch in der Gemeinde Pfersee vor den Toren der Reichsstadt Augsburg jüdische Einrichtungen unterstützte. Sie zeigte, dass sich die Fraktalität des Reiches (nach dem Konzept von Falk Bretschneider und Christophe Duhamelle) an der Stiftungsaktivität von Meyer Levi ablesen lasse, der sich in verschiedenen Orten engagierte und somit über Herrschaftsgrenzen hinaus agierte. Der jüdische Handlungsspielraum beschränkte sich aber nicht nur auf den fraktalen Raum des Alten Reichs, sondern erstreckte sich über Stiftungstätigkeiten bis ins Heilige Land.

Als eine für die soziale Differenzierung jüdischer Gemeinden aussagekräftige Quellengattung stellte Cornelia Aust Inventare vor. Diese könnten über den materiellen Besitz einzelner Personen Auskunft geben und somit auf soziale Position, Lebensstil und Konsum hinweisen. Rund 40 in hebräischer Schrift verfasste Inventare aus der jüdischen Gemeinde in Frankfurt/Oder (1780 bis 1810) wurden herangezogen, die von den Vorstehern der Gemeinde aufgenommen worden waren, um den Besitz Verstorbener zum Taxieren oder Versteigern zu verzeichnen. Auffällig sei, dass die Anzahl der Bücher im Besitz nicht mit Wohlstand korrelierte, sondern vielmehr mit Gelehrsamkeit. Inventare von Witwen spiegelten meist weniger wohlhabende Haushalte, allerdings ähnelten die Inventare wohlhabender Witwen eher denen wohlhabender Männer. Die Inventare erlaubten einen viel detaillierteren Blick in die Besitzverhältnisse als Steuerlisten, jedoch könne nur ein Abgleich mit diesen sowie weiteren Unterlagen städtischer Provenienz ein Sozialprofil der Gemeinde ermöglichen.

ROTRAUD RIES (Herford) befasste sich mit jüdischen Dienstmädchen in Bild- und Schriftquellen. Zur Suche nach bildlichen Darstellungen sei sie inspiriert worden durch die Abbildung einer Magd in Gegenüberstellung zu ihrer Herrin im Hammelburger Machsor von 1348/49. Doch eine Suche in Katalogen nach weiteren ähnlichen Darstellungen von Frauen, die eindeutig als Mägde identifiziert werden können, blieb nahezu ergebnislos. Unverheiratete Frauen und Dienstmägde blieben gesellschaftlich so unsichtbar, dass sie auch in Schriftquellen nur selten Erwähnung finden. Ausnahmen bildeten Dokumente wie Gerichtsakten zu Eigentumsdelikten, Kindsmord oder Schwangerschaften sowie Protokolle obrigkeitlicher oder kirchlicher Institutionen, die Konversionen zum Christentum dokumentierten. Am Beispiel einer verwaisten 17-jährigen jüdischen Magd aus Franken, die 1772 in Brauchschwieg zum lutherischen Christentum konvertieren wollte, veranschaulichte Ries, wie die Magd ohne Familienanschluss und Bildung ihre Hoffnung auf ein besseres Leben in eine Konversion legte. Konversionsakten seien eindrucksvolle Quellen, die die sozialen Randbereiche der jüdischen Gesellschaft beleuchten können.

DIETER WUNDER (Bad Nauheim) legte den Konfliktfall über die jährliche Pacht des würzburgischen Leibzolls im Jahr 1769 innerhalb der fränkischen Judenschaft der Ritterkantone Rhön-Werra, Steigerwald und Odenwald dar. Er bezog sich dabei auf das „Judenlandbuch“, in dem die Vermögensverhältnisse der Judenschaft erfasst worden sind, um die Abgaben für Zölle zu berechnen. Die Unterschicht sei immer stärker mit Abgaben belastet worden, sodass diese schließlich eine Rechnungsprüfung forderte. Die wohlhabende Führungsschicht der Kantone, angeführt von Rabbi Wolf von Niederwerrn, lehnte die Prüfung jedoch ab. Die Reichsritterschaft, unter dessen Schutz die Judenschaft lebte, setzte sich für die Forderungen ihrer Schutzjuden ein, ordnete sogar die Verhaftung des Rabbi Wolf an, der sich daraufhin an den Reichshofrat wandte. Wohl unter Einflussnahme Wolfs wurde jedoch schließlich entschieden, dass es sich bei dem Konflikt um eine innerjüdische Angelegenheit handele, die somit von der Judenschaft autonom ausgehandelt werden müsse. Wunder zeigte anhand dieses Rechtsstreits, der über mehrere Instanzen geführt wurde, wie ein Nichteingreifen der Obrigkeit die Ungleichheiten innerhalb der Judenschaft zementieren oder sogar befördern konnte.

BIRGIT KLEIN (Heidelberg) berichtete von der jüdischen Gemeinde in Willemstad, der Hauptstadt von Curaçao. Die Gemeinde besteht kontinuierlich seit dem 17. Jahrhundert, sodass die Familien heute eine Zugehörigkeit zur Gemeinde bis zu 15 Generationen zurückverfolgen können. Die Referentin ging der Frage nach, was dieses außergewöhnliche Kontinuitätsbewusstsein der Familien für die Gemeinde bedeutet. Auffällig sei, dass Ehrenfunktionen zwar nach dem Prinzip der Seniorität vergeben würden, dabei aber streng darauf geachtet werde, dass die Funktionen gleichmäßig unter den Familien aufgeteilt würden. Um die Stabilität der Gemeinde zu gewährleisten, hätten sich bis heute unausgesprochene Konventionen herausgebildet, die Gerechtigkeit förderten und Konflikte und damit eine Spaltung der Gemeinde verhindern sollten. Ein Vergleich mit der Gemeinde in Bonn im 18. Jahrhundert zeigte, dass hier die Begünstigung einer Familie bei der Verteilung der Gemeindeämter zu Konflikten geführt hatte.

Im letzten Vortrag erweiterte ANNA ROGEL (Düsseldorf) das Themenspektrum der Tagung um einen literaturwissenschaftlichen Ansatz. Anhand der jiddischen Ritterromane „Bovo d’Antona“ und „Paris un Wiene“, die beide im 16. Jahrhundert als Adaptionen früherer christlicher Texte entstanden sind, untersuchte sie den jüdischen Blick auf den adeligen Stand. Den Fokus legte sie dabei auf das den adeligen Figuren zugeschriebene Attribut der körperlichen Attraktivität und analysierte, ob dieses Attribut als angeboren, als positiv oder negativ aufgefasst wurde. Schönheit werde zwar als angeborenes Attribut des Adels dargestellt, der satirische Charakter der Texte lege allerdings auch eine versteckte Kritik am Adel nahe, der nur als schön gelte, weil er adelig sei. Rogel zeigte, dass die fiktiven Adelsgeschichten einen besonderen Einblick in die Wunschvorstellungen und Vorurteile der jüdischen Leserschaft geben können, da für Jüdinnen und Juden in der Realität der Frühen Neuzeit der Zugang zum Adelsstand ausgeschlossen war.

In der Schlussdiskussion hoben die Diskutierenden hervor, dass es gelungen sei, die Führungspositionen jüdischer Gemeinden in der Frühen Neuzeit näher zu betrachten. Kleine und große sowie ländliche und städtische Gemeinden seien in vielfältiger Weise berücksichtigt worden, sodass die Differenzierung sozialer Schichten erkennbarer geworden sei. Es wurde jedoch betont, dass die Quellenlage bei der Untersuchung von ärmeren Schichten eine enorme Herausforderung für die Forschung darstelle, was sich in der Anzahl der Vorträge widerspiegle, die die Armen der Gesellschaft thematisierten. Die Unterthemen der Tagung – Zugehörigkeit und Hierarchie – seien facettenreich diskutiert worden, wohingegen das Thema „soziale Mobilität“ zu kurz gekommen sei und in Zukunft mehr Beachtung finden müsse. Das Forum habe Möglichkeiten geboten, Themen zu behandeln, die in der Forschung bisher übersehen wurden. Besonders lohnend sei die Tagung gewesen, weil die Vortragenden bereit gewesen seien, aus laufender Forschung zu berichten. Somit habe die Tagung viele neue Fragen aufgeworfen, die Anknüpfungspunkte für neue Forschungsprojekte bieten.

Für die geplante Tagung des Forums 2024 einigten sich die Teilnehmenden auf das Thema „Wissenstransfer: Bildung, Erfahrungen und Praktiken“. Die Tagung findet vom 16. bis 18. Februar 2024 in der Akademie in Hohenheim statt.

Konferenzübersicht:

Julia Mutzenbach (Düsseldorf): „zum vorsing nicht uffgerufen, weil er seine 12 thaler zu bezahlen schuldig gewesen" - Der Streit einer jüdischen Dorfgemeinde über die Aufnahme eines Mitglieds

Rahel Blum (Frankfurt am Main): Gemeindeämter als Spiegel sozialer Differenzierung innerhalb der Oberschicht in Frankfurt am Main

Lisa Bestle (Mainz): Soziale Differenz(en) im Streit. Zugehörigkeit und Abgrenzung während der Kulp‘-Kann’schen Wirren

Nathanja Hüttenmeister (Essen): Begräbnispraxis als Ausdruck sozialer Differenzierung

Michaela Schmölz-Häberlein (Bamberg): Jüdische Spenden und Stiftungen im fraktalen Raum des Heiligen Römischen Reichs

Cornelia Aust (Bielefeld): Goldene Ketten und zerbrochene Tassen: Materielle Markierungen sozialer Unterschiede in Inventaren aus Frankfurt an der Oder

Rotraud Ries (Herford): Jüdische Mägde und ihre Sicht auf die jüdische Gesellschaft

Dieter Wunder (Bad Nauheim): Konflikte zwischen armen und wohlhabenden Mitgliedern der reichsritterlichen Judenschaft in Franken

Birgit Klein (Heidelberg): Familienbande als Mittel sozialer Differenzierung in der Frühen Neuzeit: Von Curaçao bis Bonn

Anna Rogel (Düsseldorf): Hoch geboren? Über die Fiktionalisierung des Adels in jiddischen Ritterromanen

Anmerkung:
1 Ich danke Christoph Cluse für seine ausführliche Mitschrift, die ich als Grundlage für diesen Bericht nutzen durfte.

Redaktion
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